Grammatik-Zweifelsfälle

Die Angst vor der Zusammenschreibung: Substantivierungen im Deutschen

Es ist eine der elementarsten Regeln der deutschen Sprache: Substantive werden großgeschrieben. Während andere Sprachen auf Großschreibung weitestgehend verzichten und meist durchgehend kleinschreiben, leistet sich das Deutsche den Luxus der großen Anfangsbuchstaben auch mitten im Satz. Doch was wie Luxus aussieht, hat seinen Sinn, denn Groß- und Kleinschreibung trägt zur einfacheren Lesbarkeit von Wörtern bei und wird der Besonderheit im Deutschen gerecht, dass Wörter schnell beliebig neu gebildet werden können. Komposita bzw. Substantivierungen machen die deutsche Sprache aus, und hier stoßen vor allem zwei Probleme aufeinander: Groß- und Kleinschreibung sowie Getrennt- und Zusammenschreibung.

Das Deutsche neigt zur Zusammenschreibung

Mit der Rechtschreibreform wurde versucht, dem Trend zur Zusammenschreibung ein wenig entgegenzuwirken, stattdessen wurde wiederum die Großschreibung weiter gestärkt (Stichwort: Rad fahrende statt radfahrende Radfahrer), doch der Kern der deutschen Sprache bleibt die Zusammenschreibung. Die Seele des Deutschen lässt sich durch die Orthographie nur beeinflussen, aber nicht umkrempeln. Inzwischen ist daher der Trend zurück zur Zusammenschreibung wieder deutlich sichtbar, viele Änderungen zur Getrenntschreibung wurden revidiert bzw. freigestellt.

Neue Wörter werden gebildet, indem sie miteinander kombiniert werden – und das querbeet durch alle Wortarten. Wenn etwa Hauptwörter kombiniert werden, klappt das meist noch ganz gut (Grammatik und Kollaps = Grammatikkollaps), doch wenn andere Wortarten dazukommen, wird es schwieriger. Das macht Deutsch für Fremdsprachenlerner, aber auch für Muttersprachler nicht immer ganz einfach zu schreiben. Manchmal wirkt es auch so, als würde einfach englische Grammatik auf deutsche Sätze angewendet werden, es scheint eine gewisse Angst vor der Zusammenschreibung zu entstehen, die im Englischen weniger stark ausgeprägt ist.

Wann zusammengeschrieben werden muss

Im Deutschen kann man durch Substantivierung beliebig lange Wörter bilden. Schlimmer noch – meist muss man es sogar. Wenn man z. B. etwas zur Verfügung stellt, dann wird daraus als Substantiv eine Zurverfügungstellung. Substantivierte Begriffe bilden im grammatikalischen Kontext ein einziges Wort, daher werden sie generell auch als ein Wort geschrieben. Die Zurverfügungstellung ist eine Zurverfügungstellung, und nicht etwa „zur Verfügung Stellung“.

Viele schlecht Deutsch Schreibende (oder: Schlechtdeutschschreibende!) und sogar Muttersprachler haben manchmal Probleme damit, da ihnen die Wörter zu lang und damit falsch erscheinen. Auch stehen sie in keinem Wörterbuch, sind aber trotzdem richtig. Manche haben bereits mit der Kopplung von 2 Wörtern Probleme, noch mehr Hemmungen entstehen dabei, wenn es eine ganze Reihe ist, die zusammengeschrieben werden muss. Aus „miteinander in Kontakt kommen“ kann z. B. bei Substantivierung problemlos ein einziges Wort, also „Miteinanderinkontaktkommen“, werden. Es kann nicht nur, es muss sogar.

Beim Miteinanderinkontaktkommen wurden erste Erfahrungen ausgetauscht.

Mancher würde die Schreibweise hier am liebsten auftrennen (und liegt damit eigentlich gar nicht so verkehrt), weil ihm das Wort falsch vorkommt (eben weil es ad hoc neu entstehen kann, nirgendwo sonst verwendet wird, in keinem Wörterbuch zu finden ist und daher verständlicherweise erst einmal fremd wirkt). Doch es kommt nie auf die Länge des neugebildeten Wortes an, ob es zusammengeschrieben wird oder nicht, sondern allein auf die Stellung und die Funktion im Satz. Wenn es ein Substantiv ist, wird es generell groß- und zusammengeschrieben, andere Wortarten in der Regel klein und getrennt. Einfach getrennt schreiben darf man ein Substantiv keinesfalls, egal wie lang es ist.

Hier im Beispiel wird „das Kommen“ lediglich erweitert zum „das Inkontaktkommen“, was wiederum durch das „Miteinander“ erweitert wird. Doch es nimmt im Satz weiterhin die Stellung eines Substantivs ein.

Verräterische Indizien

Wenn man vor eine Kette von Wörtern der, die, das, am, zum oder beim setzen kann und damit auch „weiter hinten stehende Wörter mitmeint“ und von der Bedeutung mit einschließt, dann spricht sehr viel dafür, dass man es in Wirklichkeit mit einem Substantiv zu tun hat. Das bedeutet: zusammenschreiben und groß! So kann man zwar Rad fahren, aber beim Radfahren ist man auf Zusammenschreibung zwingend angewiesen.

Schlimme Beispiele

Erstaunlicherweise (nicht: erstaunlicher Weise, dies zählt mit zu den beliebtesten Fehlern) haben selbst professionelle Autoren damit arge Schwierigkeiten – und dabei handelt es sich oft sogar um Wörter, die aufgrund ihres häufigen Vorkommens durchaus in den Wörterbüchern stehen. Kein Wunder also, dass die Unsicherheit noch größer wird, wenn die Begriffe nicht mehr im Duden zu finden sind:

Champagner kann man durchaus trinken, aber während man Champagner trinkt, ist man am Champagnertrinken. Das wissen nicht alle Autoren der Süddeutschen Zeitung:

... beim Champagner trinken ...

Dreifach hält besser: Bei Spiegel Online kennt man weder das Mäusemelken noch das Indietischplattebeißen noch das Ausderhautfahren:

Es ist zum Mäuse melken, zum in die Tischplatte beißen, zum aus der Haut fahren.

Zum Ausderhautfahren und Tischplattenbeißen. Angst vor langen und großgeschriebenen Wörtern hatte auch dieser Autor bei der Zeit:

einfaches auseinander- und wieder zusammenstecken

Alle Fehler auf einmal gemacht: keine Großschreibung, keine Zusammenschreibung und falsche Trennung. Auseinander-und-wieder-Zusammenstecken ergibt nur als ein Wort Sinn. Bereits die moderate, aber immerhin korrekte Getrenntschreibung „Auseinander- und Wiederzusammenstecken“ ändert die Bedeutung.

Manche denken wiederum, dass wenn sie die eigentlich zusammengehörende Wortkette in Anführungszeichen setzen, dann ein Wort daraus würde.

das „nicht Laufen können“

Gute Idee, aber leider falsch. Man weiß dadurch zwar eher, was ein Autor eigentlich meint, die Anführungszeichen zaubern allerdings den Grammatikfehler nicht weg. Ein falsch geschriebenes Wort bleibt auch in Anführungszeichen falsch geschrieben. Nichtlaufenkönnen wäre korrekt gewesen. Anführungszeichen sind allenfalls dann möglich, wenn sie kombiniert eingesetzt werden. Einen Rekord stellt hier ebenfalls die Welt auf, die aus einem Wort sage und schreibe vier macht ...

das acht plus sechs Prinzip

Wer hier nicht mindestens Acht-plus-sechs-Prinzip schreibt, hat kein Gespür für Prinzipien.

Neue Wahlmöglichkeiten

Die Rechtschreibreform von 1996 hat einige kleine Änderungen mit sich gebracht, doch am Grundsatz der Komposita und Substantivierungen hat sie nichts geändert, schon gar nicht wurden sie aufgeweicht oder abgeschafft. Mit einer Ausnahme: Wenn Wörter (auch Substantive) auf adjektivisch gebrauchte Partizipien treffen (also Tätigkeitswörter, die z. B. durch das Anhängen von einem „d“ Eigenschaftswortfunktion bekommen – wie fahrend, singend, stehend) und der Ausdruck auch als syntaktische Fügung (eine Gruppe von Wörtern, die gemeinsam einen Begriff bilden) gelesen werden kann, dann (aber nur dann) kann zwischen Getrennt- und Zusammenschreibung gewählt werden (§ 36 Abs. 2 der amtlichen Rechtschreibregeln).

Seitdem gibt es daher nicht nur Alleinerziehende, sondern auch allein Erziehende. Von der neuen Möglichkeit macht übrigens die 2014 überarbeitete deutsche Straßenverkehrsordnung exzessiv Gebrauch, indem sie etwa von zu Fuß Gehenden und Rad Fahrenden spricht.

Um es noch komplizierter zu machen: Das adjektivisch gebrauchte Tätigkeitswort muss ein Vollverb sein. Hilfsverben, die allein genommen keine Tätigkeit beschreiben, reichen nicht, um Getrenntschreibung zu legitimieren, da ihnen in dieser Konstellation der Eigenschaftscharakter fehlt. Es gibt also korrekterweise keine rot Werdenden oder Dienst Habenden, sondern nur Rotwerdende und Diensthabende (weil werden und haben für sich allein keine Tätigkeit ausdrücken).

Wer sich unsicher ist, ob er einzelne Wörter auch zusammenschreiben kann, braucht sich keine Sorgen zu machen: das geht bei Substantivierungen grundsätzlich.

die Alleinerziehende
der Zufußgehende
der Diensthabende

Umgekehrt ist eventuelle Getrenntschreibung, wie oben beschrieben, von den zugrundeliegenden (oder: zu Grunde liegenden) adjektivisch verwendeten Partizipien abhängig.

Bindestriche als Retter in der Not

Wenn ein zusammengesetztes Substantiv jedoch aus zu vielen Bestandteilen besteht, wird es tatsächlich unübersichtlich. Paragraph 43 der amtlichen Rechtschreibregeln und der Respekt vor dem Leser verlangen in diesem Fall Gegenmaßnahmen. Eine feste Regel, wann eine Substantivierung als zu lang gilt, gibt es nicht, doch sobald ein Kompositum aus 4 oder mehr Wörtern besteht, wird dem Leser meist schon einiges abverlangt, um noch flüssig lesen zu können. Lange Komposita sind nicht wirklich falsch, aber genau wie zu kurze, auseinandergerissene Wörter sind auch zu lange nicht sonderlich lesefreundlich. Einfach auseinanderschreiben darf man Substantive deswegen dann natürlich nicht, aber es gibt andere Möglichkeiten:

Wenn einem derart gebildete Substantive (wie Miteinanderinkontaktkommen) zu massiv und unübersichtlich vorkommen, dann hat man mehrere Alternativen. Getrenntschreibung gehört allerdings nicht dazu, das wäre ein schwerer Grammatikfehler.

Man kann es verkürzen:

Beim Inkontaktkommen ...

Man kann umformulieren:

Während die Teilnehmer miteinander in Kontakt kamen ...

Oder man kann stattdessen Bindestriche wählen:

Beim Miteinander-in-Kontakt-Kommen ...

Mit Letzerem wird aus dem eigentlich zusammenzuschreibenden Substantiv eine Wortkette, welche Hauptwortfunktion übernimmt. Die Bindestrich-Variante ist, wie man sieht, der beste Kompromiss, da die gewünschte Aussage präzise erhalten, aber doch übersichtlich bleibt.

Bindestrichwörter werden von verständigen Lesern allerdings oft so wahrgenommen, als würde der Schreiber ihnen keine anspruchsvolleren Wörter zutrauen. Ein Schreibender sollte also stets abwägen, ob er das Wort nicht lieber doch als ein einziges Wort behandelt, statt es mit Bindestrichen zu trennen. Wörter wie Miteinander-in-Kontakt-Kommen sind aber geradezu ein Paradebeispiel, wann Bindestriche bei Substantiven zur besseren Lesbarkeit beitragen. Die amtlichen Rechtschreibregeln schreiben die Bindestrichschreibweise dann sogar vor:

Man setzt Bindestriche in substantivisch gebrauchten Zusammensetzungen (Aneinanderreihungen), insbesondere bei substantivisch gebrauchten Infinitiven mit mehr als zwei Bestandteilen. (...)
Dies gilt nicht für übersichtliche Zusammensetzungen mit Infinitiv (...)

Auch Aus-der-Haut-Fahren und Acht-plus-sechs-Prinzip müssen daher mit Bindestrich geschrieben werden, da substantivierter Infinitiv (§ 43 – „Fahren“) bzw. eine Wortgruppe (§ 44 – „acht plus sechs“) enthalten sind.

Wie oben gesehen, helfen Anführungszeichen nicht gegen Schreibfehler, sie können manchmal aber unterstützend wirken, um eine sehr lange Wortkette besser zu gliedern. Feststehende Begriffe innerhalb einer Substantivkette können in Anführungszeichen gesetzt und mit dem übrigen Substantiv verbunden werden:

die „2 plus 4“-Verträge

Systematisch betrachtet gehören zwar auch dann eigentlich Bindestriche zwischen jedes Wort (weil Anführungszeichen eben keine Bindestriche sind und eine andere Aufgabe als die Substantivbildung haben), das Weglassen innerhalb der Anführungszeichen wird jedoch akzeptiert, ein Bindestrich hinter den Anführungszeichen wirkt wie „vor die Klammer gezogen“ und übernimmt in dieser Konstellation die Funktion einer gedachten durchgängigen Kopplung.

Aber mindestens der Bindestrich zwischen Anführungszeichen oben und folgendem Substantiv ist Pflicht, um nicht grammatikalisch völlig Amok zu laufen.

Falle Kettensubstantiv

Zur besseren Übersicht darf ein zusammengesetztes Wort also auch mit Bindestrichen geschrieben werden. Die Grammatik bleibt dieselbe, doch rechtschreibtechnisch werden aus dem Substantiv dadurch wieder einzelne Wörter, jetzt aber verbunden durch Bindestriche. Hier jedoch kommt es erneut zur Verwirrung: schreibt man dabei die einzelnen Wortbestandteile groß oder klein? Wird aus dem Zurverfügungstellen das

Zur-Verfügung-stellen,
zur-Verfügung-Stellen
oder Zur-Verfügung-Stellen?

Einfache Antwort: Nur die letzte Version ist korrekt – der Anfangsbuchstabe des ersten und letzten Teilwortes werden hier großgeschrieben.

Das führende Wort wird immer großgeschrieben, um den Beginn des Gesamt-Substantives zu signalisieren (deswegen wird das eigentlich kleingeschriebene „zur“ hier großgeschrieben). Dadurch unterscheidet sich das so geschriebene Mehrwörter-Substantiv von Adjektiven, die manchmal zur besseren Übersicht ebenfalls mit Bindestrich geschrieben werden („deutsch-polnische Grenze“). In den Rechtschreibregeln findet man diese Bestimmung unter § 55 Absatz 1:

Die Großschreibung gilt auch
(1) für nichtsubstantivische Wörter, wenn sie am Anfang einer Zusammensetzung mit Bindestrich stehen, die als Ganzes die Eigenschaften eines Substantivs hat

Alle anderen Wörter werden so geschrieben, wie sie auch einzeln geschrieben würden. „Verfügung“ hier deswegen groß, weil es bereits ein Substantiv ist – „die Verfügung“; „Stellen“ groß, weil es auch freistehend substantiviert werden würde („das Stellen“). Da das letzte Wort in der Regel den Hauptakzent des durchgekoppelten Substantivs trägt („das ...-Stellen“), wird das letzte Teilwort fast immer großgeschrieben. Auch wenn das Substantiv aus nur 2 Wörtern besteht, werden entsprechend natürlich beide großgeschrieben („das Kettenkarussell-Fahren“, „das Einkaufen-Gehen“).

Nur äußerst selten kommt es vor, dass das letzte Wort eines gekoppelten Substantives kleingeschrieben wird; eben dann, wenn es keinen Akzent trägt, keinen Hauptwortcharakter hat und gleichrangig neben den anderen Wörtern steht. Dies geschieht z. B. bei Auslassungen:

beim Einen-Fuß-vor-den-anderen

Würde man an dieses Beispiel das entfallene „Setzen“ anhängen, wäre dieses wieder großzuschreiben. Keine Lösung ist es jedenfalls, einfach gar nichts großzuschreiben, wie es z. B. im Folgenden die Berliner Zeitung zeigt. Hier geht der Versuch, vom Selberbrauen (oder Selber-Brauen) zu schreiben, daher gleich doppelt schief:

selber brauen

Als vereinfachte Regel kann man sich daher merken: Anfangs- und Endwort sind bei als Substantiv fungierenden Wortketten großzuschreiben.

De-Substantivierung

Doch auch der umgekehrte Weg ist möglich. Nicht nur andere Wortarten können zu Substantiven werden, auch Substantive können (meist durch Verschmelzen mit weiteren Wörtern) ihre Hauptworteigenschaft verlieren. Wenn Substantive z. B. zu Adjektiven mutieren, gelten dann natürlich die Regeln für Adjektive, nicht mehr die für Substantive. Das bedeutet, dass in der Regel Kleinschreibung angesagt ist: aus all, Wetter und tauglich wird – Überraschung – allwettertauglich, nicht etwa Allwetter tauglich oder all Wettertauglich.

Wenn Substantive durch Neubildung die Funktion eines z. B. Adjektivs einnehmen, gibt es dabei zwei Möglichkeiten: Entweder werden die beiden Begriffe mit Bindestrich verbunden, wobei das Substantiv trotz Bestandteil eines neuen Begriffs in seiner Form unverändert bleibt (das Substantiv muss dabei vorne stehen) – oder die Wörter werden einfach zusammengeschrieben. Dann jedoch verliert das Substantiv seinen Großbuchstaben.

Video-überwacht oder videoüberwacht
Spülmaschinen-geeignet oder spülmaschinengeeignet

Getrenntschreibung ist nicht möglich, denn dann würde wieder ein vollwertiges Substantiv entstehen – und im Gegensatz zur rein verwirrenden Falschschreibung bei auseinandergerissenen Hauptwörtern ergeben sich dabei dann sogar oft noch falsche Bedeutungen: Video-überwacht bzw. videoüberwacht (es wird mit Video überwacht) kann als Video überwacht z. B. das genaue Gegenteil bedeuten (das Video wird überwacht).

Zugegeben, ...

... Deutsch ist nicht die einfachste Sprache der Welt. Seien Sie trotzdem mutig und trauen Sie sich, zusammengehörende Wörter zusammenzuschreiben.

14.07.2014; letzte Änderung am 15.06.2017